70 Jahre Grundgesetz: Landrat Manfred Müller diskutierte mit Schülerinnen und Schülern des Helene-Weber-Berufskollegs über die Bedeutung der Grundrechte im Alltag

Als die kleine Helene im März 1881 in Wuppertal-Elberfeld das Licht der Welt erblickte, ahnte niemand, dass diese Frau einmal ganz große Geschichte schreiben sollte. (Auch) Helene Weber unterzeichnete am 23. März 1945 an der Seite des damaligen Bundeskanzlers Konrad Adenauer das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (GG), das einen Tag später in Kraft treten sollte. 70 Jahre ist das jetzt her: Landrat Manfred Müller nutzte den runden Geburtstag, um mit Schülerinnen und Schülern der Fachoberschule für Gestaltung und dem Beruflichen Gymnasium für Gesundheit am Helene-Weber-Berufskolleg in Paderborn die Bedeutung der Grundrechte im Alltag zu diskutieren.

Ein Kreuz im Klassenraum, ist das mit der Religionsfreiheit vereinbar? Kopftuch und Gleichberechtigung? Passt das zusammen? Gleichberechtigung und unterschiedliche Bezahlung von Männern und Frauen für dieselbe Tätigkeit, muss da der Staat nicht eingreifen? Helene Weber, die sich zeitlebens für die Rechte der Frauen und soziale Gerechtigkeit einsetzte, hätte an diesem Vormittag ihre Freude gehabt an der lebhaften Diskussion im Berufskolleg am Maspernplatz.

Grundgesetz war Antwort auf Willkür, Verfolgung, Krieg und Gewalt der Nazi-Zeit

Die Schule in Trägerschaft des Kreises Paderborn trägt ganz bewusst seit August 1998 den Namen von Helene-Weber. Berühmt war ihre große schwarze Handtasche, voller Akten und Schokoladentafeln. Diese verschenkte sie während der langen politischen Debatten unter anderem an Adenauer, der einmal gesagt haben soll: „Diese Frau hat mehr Politik im kleinen Finger als mancher Mann in der ganzen Hand“. Drei weitere Frauen und 61 Männer gehörten jenem Parlamentarischen Rat an, die nur vier Jahre nach dem Ende des Terrorregimes der Nationalsozialisten das vollbrachten, was kaum jemand für möglich hielt: aus jenem unheilvollen Nazi-Deutschland einen demokratischen Staat zu schaffen, der seinen Bürgerinnen und Bürgern atemberaubende freiheitliche Grundrechte zusprach. Man wollte lernen aus der Vergangenheit, sich deutlich von dem Deutschland der Jahre 1933 – 1945 absetzen, eine Antwort finden auf Willkür, Verfolgung, Krieg und Gewalt, bereits mit dem ersten Artikel: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Wie sieht das 70 Jahre später aus?

Gelbe und orange Zettel an der Tafel mit allen strittigen Fragen, das Grundgesetz auf dem Tisch, „kann losgehen“ sagte Landrat Manfred Müller, der betonte, wie sehr ihm die Grundrechte in den Artikeln 1-19 am Herzen liegen und wie wichtig ihm sei, genau all das mit der jungen Generation zu diskutieren. Ihnen letztlich ihre „Schönheit“ und Bedeutung nahe zu bringen. Beispiel Gaffer:

Haben Menschen das Recht an einem Unfallort sich alles anzuschauen? Nein, meint Alina (Name geändert). Was denn mit der Würde jenes Menschen sei, der da verletzt liege? Und was ist mit dem Recht, sich ungehindert zu informieren? Der Landrat, zugleich auch Chef der Kreispolizeibehörde betonte, dass hier Grundrechte gegeneinander abzuwägen seien.

„Dann will ich im Ausland auch mit Badeshorts rumlaufen“(Schüler)

„Und spätestens dann, wenn Polizei und Rettungskräfte bei ihrem Einsatz behindert würden, Videos oder Fotos gemacht bzw. veröffentlicht und somit Persönlichkeitsrechte verletzt werden, sind wir im Bereich der Straftat“, erläuterte Müller.
Nächster leuchtender Punkt an der Schultafel: Kopftuch und Gleichberechtigung. „Wenn eine Frau sich entschließt, ein Kopftuch zu tragen, warum denn nicht“, fragt Klara (Name geändert). Das genau sei doch auch Ausdruck der Religionsfreiheit, die ebenfalls grundgesetzlich geschützt sei. „Dann muss das aber länderübergreifend geregelt werden. Und wenn man hier dann ein Kopftuch tragen darf oder nicht, dann will ich im Ausland auch in Badeshorts rumlaufen dürfen“, meint Werner (Name geändert). Klara hakt nach, warum im Klassenzimmer ein Kreuz hängt. Andreas Czorny, Schulleiter des Helene-Weber-Berufskollegs, verweist auf das Vorwort zum Grundgesetz, das beginne mit „Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen…hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben“. Die Schule erinnere mit dem Kreuz genau an diese Passage, es sei ein Symbol, das dafür stehe, dass das Helene-Weber-Berufskolleg die Grundrechte achte und für sie einstehe. „Aber da steht Gott, viele Religionen haben ein Gott, da könnte auch was anderes hängen“, meint Klara. Czorny lächelt: „Ja, und es ist Ausdruck unserer christlich geprägten Kultur“, bekräftigt der Schulleiter. Klara lässt nicht locker: Warum ist eigentlich nur an Weihnachten und Ostern frei? Warum bekommen Schüler aus anderen Religionen keinen freien Tag, um mit ihrer Familie das für sie aus religiösen Gründen bedeutende Fest zu feiern? Bei der Genderisierung im Sprachgebrauch sind sich alle einig: die nerve. „Es heißt der Schrank. Und das soll jetzt unfair sein? Wie bescheuert ist das denn?“, bricht es aus Christine (Name geändert) heraus. Der Landrat erinnert an den Kampf der Frauen um Gleichberechtigung. Nur hundert Jahre sei es her, dass Frauen wählen durften. Artikel 3 des GG, „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ ist ein Satz der hart umkämpft war, bis er Aufnahme in das Grundgesetz fand. Noch in den siebziger Jahren bestimmte der Mann, ob eine Frau arbeiten durfte oder nicht. Heute könne auch eine Frau sagen, Du bleibt zu Hause, ich geh arbeiten. Christine sagt: „Na, das muss aber ausgehandelt werden. Einer muss sich ja um das Kind kümmern. Das darf doch auch nicht auf Kosten des Mannes gehen“. Der Landrat zeigte sich sichtlich beeindruckt von so viel Selbstbewusstsein und Ausgewogenheit.

Schülerinnen berichten von ungleicher Behandlung im Praktikum

Als Madeleine (Name geändert) erzählt, wie es ihr im Praktikum ergangen ist, wird es still im Raum. Sie habe ein Praktikum in einer Werkstatt machen wollen. Dort habe man ihr gesagt, Du bist blond, Du kannst den Boden wischen“. Diana (Name geändert) erzählt, dass sie gemeinsam mit einem Jungen ein Praktikum gemacht habe und ähnliches erfahren habe. Der Junge sei auf Montage mitgenommen worden, sie sei in der Werkstatt häufig allein gewesen und habe den Boden fegen müssen“. Der Landrat ist erschüttert: „Da muss offensichtlich in den Köpfen noch einiges passieren“. Nächster Punkt: Impfen und die grundgesetzlich garantierte körperliche Unversehrtheit. Im niedersächsischen Hildesheim gab es einen Todesfall, der wahrscheinlich auf eine Masern-Infektion zurückzuführen ist. Ist eine Impfung ein Eingriff in die körperliche Unversehrtheit? „Ja, so eine Spritze ist erst einmal ein Eingriff“, sagt Müller. „Aber die Eltern haben doch die Aufgabe, ihre Kinder zu schützen. Da gehört Impfen doch dazu“, meint Friederike (Name geändert). Müller erläuterte, dass das Gesundheitsamt des Kreises Paderborn als staatliche Institution auch Aufgaben nach dem Infektionsschutzgesetz zu leisten habe, also die Bevölkerung vor Seuchen schützen müsse. Ältere Semester kannten noch die Pockenimpfung, die verpflichtend in den Schulen durchgeführt wurde. Und bei Masern wisse man, dass die Durchimpfungsrate derzeit nicht hoch genug sei, um die Menschen vor dieser gefährlichen Erkrankung zu schützen.
Zu teure Wohnungen und Wartelisten für Kindergärten, auch darüber machten sich die Jugendlichen Sorgen. Auch da müsse der Staat mehr tun. Die Wohnungsknappheit hat den Artikel 15 des GG populär gemacht, der es dem Staat „zum Zwecke der Gesellschaft“ ermöglicht, zu enteignen. „Aber das geht nicht ohne Entschädigung, und auch das ist grundgesetzlich in Artikel 14 geregelt“, betont der Landrat.

Jutta Wegemann, Lehrerin am Helene-Weber-Berufskolleg, erinnerte abschließend daran, dass die Mütter und Väter des Grundgesetzes mit Blick auf den Terror und das Unrechtsregime der Nazizeit ganz bewusst den Staat und seine Eingriffsrechte begrenzen wollten. „Also nicht zu viel Staat“, betonte Wegemann. Deshalb stehen in Artikel 1 des GG zwei Sätze: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller Gewalt. Das heiße aber auch, dass in einer Demokratie nicht alle Wünsche sofort und immer erfüllt werden könnten. Der Einzelne also auch seine Verantwortung für sich und andere wahrnehmen müsse. Gleichzeitig garantiert die grundgesetzlich geschützte Meinungs- und Pressefreiheit, dass jeder sich für seine Belange auch öffentlich einsetzen kann. Das Fazit an diesem Morgen im Helene-Weber-Berufskolleg: Letztlich ist die Demokratie eine Dauerbaustelle. Doch will man in Frieden und Freiheit leben, muss man um sie zu kämpfen. Jeden Tag.

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